// Predigt von Michael Brinkschröder im queerGottesdienst vom 09. Juli 2023.
Liebe Geschwister,
der Salzburger Theologe Hans-Joachim Sander hat vor kurzem einen Vortrag gehalten, in dem er erklärt hat, dass man bei der Kirche auf fallende Kurse setzen sollte. Angesichts der Austrittszahlen, die in diesem Jahr in Deutschland mit gut einer halben Million etwa so hoch waren wie die der Besucher:innen des CSD allein in München, scheint er – zumindest bislang – recht zu haben. Er vergleicht dabei den erwarteten „Wert“ der Kirche mit der Spekulation am Aktienmarkt. Wenn der Kurs einer Firma einbricht, die eigentlich gewinnträchtig ist, dann gerät diese Firma unter starken Reformdruck. Schafft sie es, durch organisatorische Umbauten wieder am Markt attraktiv zu werden? Lohnt es sich, einzelne Teile der Firma auszugliedern, die erfolgreiche Gewinne einfahren können? Gibt es beim „Unternehmen Kirche“ noch Bereiche, die nicht von sexuellem Missbrauch, sexueller Gewalt und patriarchaler Macht kontaminiert sind? Mir fällt da zum Beispiel die Caritas ein oder die Besinnung auf Jesus und sein Evangelium in Worten und Taten.
Im heutigen Evangelium gibt auch Jesus einen Kurswert an: Obwohl er sieht, dass seine Anhänger:innen verfolgt und in ihrer Existenz bedroht werden, sieht er darin noch nicht einmal die größte Gefahr. Diese geht vielmehr vom Herrscher der Hölle aus, der nicht nur den Leib, sondern auch die Seele vernichten kann. Wer würde angesichts dessen wohl einen Pfifferling auf die Zukunft seiner Schüler:innen setzen? Doch obwohl hier alles nach einer Baisse, einem Niedergang des Aktienkurses der Jünger:innen aussieht, verkündet Jesus eine ganz andere Botschaft und die lautet: „Ihr seid mehr wert!“ Was für eine Überraschung! Wie kann es sein, dass in diesen Jünger:innen ein Potential steckt, dass bislang offenbar niemand entdeckt hat? „Ihr seid mehr wert!“ heißt ja so viel wie: „Glaubt an euch selbst, so wie ich an euch glaube. Ich setze auf euch. Ihr schafft das!“
Wer gut rechnen kann, wird jetzt wahrscheinlich genauer nachfragen: „Mehr wert – als wer oder als was?“. Die genannten Vergleichsgrößen fallen tatsächlich allzu bescheiden aus: Mehr wert als zwei Spatzen, die zusammengenommen nur einen Pfennig wert sind. Und mehr als die Haare auf dem Kopf, die einzeln gezählt sind, wo doch die Erfahrung zeigt, dass sie mit dem Alter schütter werden und ausfallen. Entscheidend ist vielmehr die Trumpfkarte, die Jesus spielt, denn im Flug der Spatzen vermag er den Willen Gottes zu erkennen, der dafür sorgt, dass sie nicht (plumps) auf den Boden herabfallen.
Jesus redet hier also nicht von einem großen Vermögen. Wie auch? Er selbst ist ja der Prophet der Tagelöhner, Armen und Prostituierten – allesamt Habenichtse, denen er Beispiele gibt, wie sie sich durch solidarisches Verhalten untereinander helfen können und denen er die Vision einer lebenswerten Zukunft schenkt. Sein Satz „Ihr seid mehr wert“ ist nicht zu den Großkapitalisten gesprochen, die Profite machen wollen und deshalb morgens gebannt auf den Wert ihrer Aktien schauen. Er ist gesprochen zu denen, die eigentlich keinen Grund haben an sich und ihren Wert zu glauben.
Ich möchte hier einen Sprung machen – einen Sprung zurück in die 90er Jahre und nach Münster, wo ich studiert habe. Da habe ich 1991 die AG Schwule Theologie gegründet, aus der 1999 die Queergemeinde Münster hervorgegangen ist, von der heute eine ganze Reihe von Leuten hier ist. Am Anfang waren wir vier nur Theologiestudenten, drei katholisch, einer evangelisch, drei schwul, einer bisexuell; nur ein einziges Mal schaute eine lesbische Theologin vorbei. Wir waren damals inspiriert von der Politischen Theologie, von Feministischer und lateinamerikanischer Befreiungstheologie und fanden es nur konsequent, dass es dann auch so etwas wie schwule Theologie geben müsse. Schon der subversiv eingefädelte Schritt aus dem Verborgenen ins Vorlesungsverzeichnis der Fakultät brachte großen Ärger mit den Professoren (damals fast alles Männer). Wir brauchten eine lange Zeit, um uns im kirchlichen Umfeld, in dem so viele verborgene Schwule Macht und Einfluss haben, zurechtzufinden. Keiner von uns hatte als offen schwuler oder bisexueller Theologe eine reelle Berufsperspektive. Für das, was und wer wir waren, hatten wir keine theologische Sprache, und Literatur konnten wir nirgends finden. Nichts deutete darauf hin, dass das, was damals verborgen war, nämlich das queere Leben in der Kirche, eines Tages auf den Dächern verkündet würde. Doch der Same dafür war in dieser AG schon angelegt, nämlich das Bewusstsein:
Wir sind mehr wert – als uns als Sünder abstempeln zu lassen.
Wir sind mehr wert – als in der Arbeitslosigkeit zu stranden.
Wir sind mehr wert – als über unsere Sexualität und unsere Beziehungen aus Scham zu schweigen.
Diese Saat ist aufgegangen: Heute haben sich die Verhältnisse nahezu umgedreht: Inzwischen gibt es im deutschsprachigen Raum über 20 Queergottesdienste (acht von diesen Lesbischwulen Gottesdienstgemeinschaften haben sich gestern und heute hier in St. Paul miteinander ausgetauscht). Es gibt zahlreiche christliche LSBTIQ+-Gruppen, das Netzwerk #OutInChurch, die Änderung des kirchlichen Arbeitsrechts, die Beschlüsse des Synodalen Wegs, die Regenbogenpastoral und vieles mehr. Und wir stehen im Scheinwerferlicht der Öffentlichkeit, denn die Medien interessieren sich brennend für Geschichten rund um queere Menschen in der Kirche, während sie für viele andere Bereiche, in denen unsere Geschwister in der Kirche Gutes und Wegweisendes tun, kein offenes Ohr haben. Mir ist dieses Ungleichgewicht manchmal schon peinlich, aber ich sehe darin auch eine Verpflichtung. Denn jetzt ist es an uns, die Botschaft Jesu vom bevorstehenden Kursanstieg derer, an die außer Gott niemand glaubt, zu verkünden.
Ich habe jetzt viel über Spekulationen gesprochen, über fallende und steigende Werte und wahrscheinlich fragen sich manche von euch schon verzweifelt, wann ich endlich mit diesem kapitalistischen Gerede aufhöre. Jesus hat schließlich nicht in Aktien investiert und Börsen gab es zu seinen Zeiten noch gar nicht. Aber ich möchte das nicht tun, ohne euch zuvor noch das Geheimnis des unerwartet steigenden Kurses zu verraten. Das Geheimnis liegt im Bekenntnis.
Jesus sagt: „Jeder, der sich vor den Menschen zu mir bekennt, zu dem werde auch ich mich vor meinem Vater im Himmel bekennen.“ Gemeint ist damit nicht das Bekennen einer Schuld, etwa in der Beichte, sondern sich zu jemandem zu bekennen. Spekulieren und sich zu jemandem bekennen sind zwei Aktivitäten, die zunächst einmal große Ähnlichkeiten miteinander haben: Man muss vorher alle Umstände ins Kalkül ziehen, die die Entwicklung beeinflussen können. Dann bringt man im Hier und Jetzt zum Ausdruck, ob man an eine rosige oder eine düstere Zukunft glaubt. Das erfordert eine Entscheidung und damit Mut. Denn es bleibt ein Risiko, das man unweigerlich eingehen muss, weil kein Mensch die Zukunft jemals vollkommen in der Hand hat.
Und doch gibt es zwei entscheidende Unterschiede: Wenn ich mich zu jemandem bekenne, dann gehe ich eine tiefere Bindung ein, bei der es nicht nur um den ökonomischen Wert geht, sondern um meine Werte, mein ganzes Leben. Wichtiger noch: Ich gehe damit eine langfristige Bindung ein, die bei der erstbesten Krise nicht gleich wieder abgestoßen wird. Durch ein Bekenntnis schenke ich Vertrauen und erzeuge damit eine Beziehung, die für lange Zeit tragfähig ist. Wenn sich jemand zu mir bekennt, kann das Kräfte freisetzen, von denen ich selbst nicht wusste, dass sie in mir stecken. – Ihr werdet davon gleich beim Glaubensbekenntnis noch etwas mehr hören.
In diesem Sinn ruft uns Jesus dazu auf, dass wir uns zu ihm bekennen, ihm vertrauen und ihm nachfolgen. Weil sich nicht nur Menschen, sondern sogar Gott sich zu ihm bekannt hat, war er imstande, die Krise des Kreuzes, den absoluten Nullpunkt, den Black Friday zu überstehen, ohne endgültig Bankrott zu gehen. Auch wenn Börsentipps eine heikle Sache sind, angesichts dieser Performance möchte ich euch empfehlen in Jesus-Aktien zu investieren, denn ihr Wert ist unzerstörbar. Er wurzelt nicht in der Spekulation, sondern im Bekenntnis und in der Beziehung zu Jesus. Aus dem Nichts erschafft er Mehrwert, denn er kann denen, die nichts haben und nichts gelten, den Glauben an sich selbst schenken – einfach, weil er davon ausgeht, dass ihr, wir, du, ich „mehr wert sind“ als profitorientierte Spekulanten jemals träumen könnten. – Amen.